São Luís, im Oktober 2012
Lieber Bruder Augustinus, Pax et Bonum!
[…]
Brasilien ist nach wie vor ein Land der Gegensätze. Mit meinen noch vorhandenen Deutschkenntnissen erfahre ich, dass die internationale Presse ein verzerrtes Bild des wirtschaftlichen bzw. sozialen Wachstums vermittelt.
Leider sieht die Realität anders aus. Für uns hat die Armut in Brasilien andere Proportionen erhalten, und ihr Gesicht ist zu einer Fratze geworden, die der Bevölkerung tiefe Sorgenfalten gezeichnet hat. Die brasilianische Presse trägt auch häufig zu einem verzerrten Bild bei, indem sie die Verarmung der brasilianischen Bevölkerung hinter den großen Weltereignissen versteckt, wie die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016. Nicht selten wandern Gelder hierfür in die Taschen von korrupten Politikern – an der bedürftigen Masse vorbei. Die verarmten Brasilianer sind undurchsichtig für die eigene Regierung und mittlerweile auch für die Welt geworden. Sie werden allmählich gesellschaftlich ausgegrenzt, und ihnen wird durch die Entwicklung Brasiliens wenig geholfen.
Heute ist der brasilianische Kindertag und gerne würde ich Dir eine andere Situation
schildern, aber leider ist die aktuelle Lage in den meisten Bundesstaaten im Norden und
Nordosten Brasiliens so. Und im Bundesstaat Maranhão ist es auch nicht anders. 40% der
Bevölkerung sind vom funktionalen Analphabetismus betroffen, d.h. sie können einigermaßen Buchstaben erkennen, aber schreiben und lesen nur mit großer Schwierigkeit, wenn überhaupt.
Darüber hinaus ist unser Bundesstaat nicht in der Lage, den Kindern und Jugendlichen eine qualitativ hochwertige Schulbildung zu bieten. Die meisten Schüler gehen in die weiterführenden Klassen, ohne richtig lesen und schreiben zu können, denn für die
Bildungsstatistiken des Landes zählen nur die Schülerzahlen und nicht ihr Ausbildungsstand.
Im Jahre 2010 veröffentlichte die brasilianische Nicht-Regierungsorganisation „Alle für die
Bildung“ (Todos pela Educação), dass 3,8 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen 4 und 17 Jahren keine Schule besuchen. Diese Zahl kann durch weitere Informationen aus einer Studie vom brasilianischen Institut der angewandten Wirtschaftsforschung (Ipea - Instituto de
Pesquisa Econômica Aplicada) bekräftigt werden, in der die hohe „Schulfluchtsrate“ in den
Bundesstaaten im Norden und Nordosten Brasiliens dargestellt wird. Im Bundessaat Maranhão z. B. sind es 60,4 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren auf und 12,8 Prozent der Kinder zwischen 6 und 14 Jahren.
Einer der Gründe für die Schulflucht ist die prekäre Wirtschaftslage, in der sich die Familien befinden. Viele der Kinder verlassen die Schule oder haben nicht mal die Chance, die Schulbank zu drücken, und das, verständlicherweise, aufgrund der körperlichen Erschöpfung des häufig anstrengenden Arbeitstags.
Aber nicht nur das: Die Art und Weise, wie das brasilianische Schulsystem die Schüler aufnimmt, trägt auch zu diesen erschreckenden Zahlen bei. Unqualifizierte Lehrkräfte sind an der Tagesordnung der brasilianischen Schulen. Knapp 40% der brasilianischen Lehrer in den Bundesstaaten Roraima, Maranhão und Bahia haben einen akademischen Abschluss erlangt. Und diese Lehrer bleiben uns nicht lange erhalten und ziehen in andere Bundesstaaten um, in denen sie eine bessere Bezahlung erhalten oder sie wechseln, für ein paar REAL mehr auf dem Konto, in die freie Wirtschaft.
Auch die Schulspeisung ist ein ernst zunehmendes Problem. Im letzten Jahr haben
580 Tausend Schüler aus den staatlichen Schulen ohne Schulspeisung die Schulbank drücken müssen. Und nur weil der Bundesstaat Maranhão so korrupte Politiker hat, die Steuergelder in ihre eigene Tasche wandern lassen und sie nicht, wie geplant, für die Schulspeisung verwenden.
Es sind Bildungsprojekte wie unsere Frei-Alberto-Schule, die den betroffenen Familien
Hoffnung geben. Diese Familien streben verständlicherweise an, dass ihre Kinder eine solide
Schulbildung erhalten. Leider können wir nicht alle Kinder aufnehmen, und wir sind dankbar,
dass wir im Jahr 2012 insgesamt 884 Kindern den Zugang zur Schule ermöglichen konnten.
Aber wir rechnen für das Jahr 2013 mit einer noch größeren Nachfrage. Das ist eine Folge des staatlichen Bildungssystems, das die brasilianische Regierung vor dem Ausland zu verschleiern versucht: sanierungsbedürftige Schulgebäude, Lehrerstreiks, überfüllte Schulklassen, verdorbene Schulspeise und, und, und….
Die Frei-Alberto-Schule ist eine Vorzeigeschule, und das hat sich schon seit Jahrzehnten in São Luís, der Bundeshauptstadt Maranhãos herumgesprochen. In der Frei-Alberto-Schule sind die Mitarbeiter und die Eltern der Schüler, so wie unsere Unterstützer in Deutschland, sehr aktiv und setzen sich dafür ein, dass die Kinder in unserer Schule weiterhin ihre Fähigkeiten durch Bildung sowie kulturelle und religiöse Aktivitäten entwickeln können, wie die Feier des Karnevals und des Johannesfestes, Ausstellungen, Theatergruppen und Bibellesungen.
Für die Unterstützung zur Aufrechterhaltung der Frei-Alberto-Schule möchte ich mich ganz
herzlich bei Dir und allen Spenderinnen und Spendern bedanken. Ohne diese tatkräftige Hilfe hätten viele Familien ihren Kindern eine Schulbildung und die Chance auf eine bessere Zukunft nicht ermöglichen können. Alle Partnergruppen und Unterstützer, Dich und die Mitarbeiterinnen der Franziskaner Mission schließe ich brüderlich in meine Gebete ein. Dass alle im Glauben bestärkt bleiben und unter dem Schutz Gottes stehen mögen.
Dein
Bruder Zacarias Nunes Lopes ofm
Leiter der Frei-Alberto-Schule – EPFA
Aus dem Brasilianischen übersetzt von Frau Márcia Sant’Ana, Mitarbeiterin der Franziskaner Mission.