Schüler*innen denken

Alle Bildung ist politisch

von Rieke Krützmann

Die Frei-Alberto-Schule in Bacabal (Brasilien)

Als meine Facharbeit anstand, suchte ich nach einem spannenden Thema. Das Thema wollte ich gern mit meinem vierwöchigen Praktikum an unserer Partnerschule, der Frei-Alberto-Escola in Brasilien verknüpfen, um einen noch besseren Einblick in die Schule zu erlangen, die wir seit so vielen Jahren zuverlässig unterstützen.

Herr Bömelburg machte mich dann auf den brasilianischen Erziehungswissenschaftler Paulo Freire aufmerksam, der einen praktischen Ansatz zur Erwachsenen-Alphabetisierung bietet. Durch den vorherigen Kontakt mit der brasilianischen Schule erfuhr ich, dass die Schule nach dem Konzept Paulo Freires arbeitet und dieses auf Schulkinder angepasst hat.

Im Folgenden will ich euch durch eine Kurzversion meiner Facharbeit einen Einblick in unsere Partnerschule bieten:

Wie kam es überhaupt dazu, dass Paulo Freire einen neuen Ansatz gesucht hat, um gegen Analphabetismus in Brasilien vorzugehen,obwohl es Schulen gab? 

Paulo Freire behauptet, dass Brasilien eine geschlossene und entfremdete Gesellschaft sei, die sich jedoch im Wandel befände. Sie sei eine Gesellschaft, die durch ausländische Märkte geprägt würde. Sie sei voller Hoffnungslosigkeit und voll von naivem Optimismus. Das sog. „Klima der Hoffnung“ würde durch andere Personen belastet werden, z.B. Politiker oder Elitäre des eigenen Landes, die kein Interesse an einer funktionierenden Demokratie hätten.
 

Im Jahr 1964 gab es rund vier Millionen Kinder im schulfähigen Alter in Brasilien, die aber nicht zur Schule gingen. Außerdem gab es zum selben Zeitpunkt rund 16 Millionen Analphabeten im Alter von 14 Jahren. Brasilien entwickelte sich nach Beobachtung von Freire unter Voraussetzungen, die der Demokratisierung entgegenstünden. Er sagte, der Mangel an demokratischen Erfahrungen sei das Hindernis an der Demokratisierung. Er gehörte zu der Gruppe von Menschen, die an eine Öffnung der Gesellschaft ohne Gewalt und nur durch die Möglichkeit zur politischen Partizipation glaubten.

Das Ziel von Paulo Freire war es fortan, ein Projekt zu konzipieren, in dem Lesen und Schreiben gelehrt würde, sodass die Menschen dadurch ein „kritisches Bewusstsein“ durch seine „Bewusstseinsbildung“ entwickeln könnten. Das kritische Bewusstsein solle den Menschen dazu befähigen, ihr Leben frei, vernünftig, solidarisch und mit Verantwortung führen zu können. Die Pädagogik solle Menschen verhelfen, der industriellen Zivilisation zu widerstehen und eine neue Einstellung gegenüber den eigenen Problemen zu finden. Durch die Möglichkeit des Lesens und Schreibens könnten sie eigene Nachforschungen betreiben, anstatt nur Dinge nachzureden, die ihnen vorgelegt würden.

Freire war der Meinung, dass der traditionelle Lehrplan ohne Bezug auf die Realität gewesen sei.

Um zu verstehen, was unter einem Analphabeten gemeint ist, wieso Analphabetismus eine Demokratie nicht fördert und was Paulo Freires Ziel mit seiner Pädagogik ist, erläutere ich folgend.

    Analphabet:

    Ein Analphabet ist eine Person, die die gesellschaftliche Mindestanforderung an die Schriftsprache nicht erfüllen kann. Die Erfüllung der Mindestanforderungen ist Voraussetzung zur sozial streng kontrollierten Teilnahme an der schriftlichen und sprachlichen Kommunikation in allen Arbeits- und Lebensbereichen. Ein Analphabet ist durch die ungenügenden Kenntnisse nicht in der Lage, an einer Demokratie teilzuhaben, da er sich sprachlich und schriftlich nicht integrieren kann.

    Conscientizçâo (Bewusstseinsbildung):

    Paulo Freires Ziel lesen und schreiben zu lehren bedeutet, dass die Menschen danach in ein sog. kritisches Bewusstsein treten können und somit die Demokratie voranbringen können und sich auch selbst beteiligen.

    Paulo Freire versteht unter dem Begriff der Bewusstseinsbildung die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins.   

    Das kritische Bewusstsein trete niemals von alleine ein, sondern benötige eine kritische Erziehung. Verantwortungsbewusstes Verhalten entstehe durch kritisches Bewusstsein. Kritisches Bewusstsein stehe in einem integrierten Verhältnis zur Realität.

    Demokratie und Demokratische Erziehung:

    Demokratie und die demokratische Erziehung basierten auf dem Glauben in den Menschen und darauf, dass er seine Probleme lösen könne und auch die Verpflichtungen dafür aufnehme.

    Daher sieht Paulo Freire Erziehung als Tat der Liebe sowie als Tat des Mutes.

    Paulo Freire ist es wichtig, dass die Wörter und Themen der Erfahrungswelt und der existenziellen Realität der Gruppe entsprechen. Aus diesem Grund soll der Koordinator (Anm.: = Begleiter auf Augenhöhe, der nur Denkanstöße gibt), der das Projekt durchführt, herausfinden, welche Wörter und Themen geeignet sind und der Realität der Teilnehmer entsprechen und ihnen diese nicht einfach vorgeben.  

    Für die Koordinatoren sei es zudem wichtig, in einen Dialog einzutreten, um auf einer Ebene zu kommunizieren und lernen zu können, und um den Gruppenteilnehmern die Instrumente bieten zu können, mit denen selbstständig Lesen und Schreiben erlernt werden kann.

    Die Frei-Alberto-Schule

    Die meisten werden den Begriff Bacabal bereits gehört haben, haben Dekorationen oder Bilder davon gesehen oder werden schon einmal bei einer Aktion mit gemacht haben, um unsere Partnerschule zu unterstützen.

    Doch was ist genau Bacabal?

    Unsere Partnerschule, die Frei-Alberto-Schule, ist in Bacabal – einem Stadtteil von Sâo Luís im Bundesstaat Maranhâo in Brasilien – angesiedelt und besteht aus einer katholischen Vor-, Grund- und weiterführenden Schule.   Kinder im Alter zwischen 5 und 15 Jahren besuchen die Schule.

    In Brasilien gilt Sao Luis als eine der ärmsten Städte des Landes. Die Schule liegt damit in einem wirtschaftlich schwachen Gebiet. Sie will Kindern, deren Familien kein gutes Grundeinkommen haben, durch Unterstützung von außen eine gute Bildung bieten. Die Schule wird durch die Franziskanermission gefördert, die als internationales Hilfswerk eines katholischen Ordens mit Hilfe von Spendengeldern Entwicklungs- und Menschenrechtsprojekte u.a. in Brasilien durchführt. Zwischen der Hildegardis Schule und der Frei-Alberto-Schule besteht seit 50 Jahren eine Partnerschaft. Durch alljährliche Spenden unterstützt die Hildegardis Schule die Frei-Alberto-Schule in ihrer Bildungsarbeit.  

    Durch diese Partnerschaft entstand für mich auch die Möglichkeit eines vierwöchigen Praktikums in unserer Partnerschule.

    Theoretische Ansätze der Schule

    Die Frei-Alberto-Schule hat die Theorien von Paulo Freire für die Erwachsenen-Alphabetisierung für ihre Schule entsprechend ihrer Zielgruppe umgearbeitet. Dafür wurden eigens entwickelte Bücher konzipiert, um die Realität und die direkte Umgebung der Kinder aufzunehmen. Somit werden Gegenstände oder Themen wie Früchte, die aus der Region kommen, Gegenstände aus ihrem Haushalt oder Gegenstände aus ihrer direkten Umgebung behandelt.

    Ein ebenso wichtiger Bestandteil ist die Bewusstseinsbildung. Für die Schule ist es wichtig, den Kindern schon früh eine kritische Haltung gegenüber der brasilianischen Politik zu vermitteln. Sie behaupten, dass Kinder durch erlangtes Wissen eine kritische Haltung einnehmen könnten.

    Donna Angelica, die pädagogische Leiterin der Frei-Alberto-Schule, fasst dieses Vorhaben besonders gut zusammen: "Alle Bildung ist politisch. (...) Wenn wir in unserer Pfarrschule jedes Jahr nur 100 Kinder soweit bringen könnten, dass sie als Erwachsene den Reichen und Mächtigen unseres Landes die Rechte vorlesen könnten, dann hätten wir viel erreicht."

    Partizipation hat für die Schule ebenfalls oberste Priorität. Auch wenn die Schule einen gewissen Lehrplan einhalten muss, ist es ihr wichtig, dass die Kinder bei Vorbereitungen und im Schulalltag mitmachen, teilhaben und mitentscheiden. Die Schule gehe nach dem Zitat von Paulo Freire: „Nâo se pode falar em educaçâo sem amor.“. Dies heißt übersetzt, dass es nicht möglich sei, ohne Liebe über Bildung zu sprechen. So lautet das Motto der Schule: „Educar e um Ato de amor.“. Das bedeutet so viel wie „Unterrichten ist ein Akt der Liebe“. Dieses Motto soll Lehrer und Schüler daran erinnern, dass sie auf einer Ebene miteinander kommunizieren, lernen und wachsen sollen.

    Praktische Ansätze der Schule

    Im Folgenden werde ich praktische Ansätze zur Umsetzung der Alphabetisierung und Bewusstseinsbildung an der Frei-Alberto-Schule wiedergeben, mit Bezug auf die Theorie von Paulo Freire.

    Die Schule will den Kindern von Anfang an das Prinzip des Dialoges bewusstmachen. Auf den Schuluniformen der Kinder steht: „Homens grandes capazes de amar.“ Dies soll die Kinder immer daran erinnern, dass sie (so die Übersetzung) große Menschen sind, die lieben können. Es soll die Empathie, die entscheidend für den Dialog ist, widerspiegeln und die Kinder daran erinnern, dass sie diese zeigen müssen.

    Ein weiteres Merkmal der Frei-Alberto-Schule ist es, mit den Schülern die Pause zu verbringen. Die Lehrer haben ein Lehrerzimmer zur Verfügung. Dennoch wird durch die gemeinsame Zeit ein Gefühl von einem gemeinsamen Lernen vermittelt. Ein Gefühl der Empathie (wie im Dialog erwünscht) soll vermittelt werden.

    Im Philosophie-Unterricht, der bereits in der Vorschule anfängt, wird die Bewusstseinsbildung nach Paulo Freire integriert (siehe Beispiel eines Informationsblattes aus der Frei-Alberto-Schule als Original im Anhang).

    In fünf Punkten werden die Schüler darüber informiert, wofür sie Philosophie lernen müssen.

    Die Kinder lernen, wie wichtig es ist, Lesen und Schreiben zu können, um sich in der Welt der schriftlichen Kommunikation zu verständigen und auszudrücken. So können sie zur Welt der Kultur beitragen. Durch den Philosophie-Unterricht soll ihnen auch der Mut zu Kritik vermittelt werden, der in der Bewusstseinsbildung eine große Rolle spielt. 

    Wofür ist die Theorie von Paulo Freire nun gut?

    Das Konzept Paulo Freires macht bewusst, dass Schüler aus bildungsärmeren Schichten, wie der in Bacabal, eine solche Bewusstseinsbildung neben der Alphabetisierung benötigen. Sie sollen verstehen, dass es ihnen nicht nur beruflich, sondern auch politisch hilft, sich einzubringen und eine Stimme in der Politik und in ihrem Land zu gewinnen.

    Gerade in einer Zeit, in der politisch Rechte wieder vermehrt publik sind, ist die politische und somit die kritische Bildung von Notwendigkeit und sollte in das Bewusstsein der Menschen treten.

    Mir ist in dem Aufenthalt und beim Verfassen der Facharbeit bewusst geworden, wie wichtig die Fähigkeit des Lesens und Schreibens ist und was man mit dieser Fähigkeit alles bewirken kann. Das Konzept Paulo Freires hilft der Frei-Alberto-Schule dabei sehr. Aus diesem Grund ist es unglaublich wichtig, dass wir dieses Projekt weiterhin unterstützen und den Kindern eine berufliche Perspektive und demokratische Beteiligung bieten können.

     

    weiterführende Literatur:

    • Dabisch, Joachim, Aspekte der Freire-Pädagogik, Oldenburg, 2009
    • Eicher, Peter, Paulo Freire Frei Betto Schule die Leben heißt, München, 1986
    • Figueroa, Dimas, Paulo Freire zur Einführung, Hamburg, 1989
    • Freire, Paulo, Erziehung als Praxis der Freiheit, Reinbeck bei Hamburg, 1977