LehrerInnen denken

Perspektivwechsel: Vom Schüler zum Lehrer an der Hildegardisschule

 

Von Alexander Lambers

 

Juli 2008: Mein Name ist Alexander Lambers, 20 Jahre alt und frisch gebackener Abiturient. Mein Abitur habe ich an der Hildegardisschule in Münster gemacht. Eine überaus gute Schule. Die letzten drei Jahre bin ich wirklich gerne hier hin gefahren. Ich bin tollen Lehrern begegnet, die wirklich an meinem Lernerfolg interessiert waren und mich individuell gefördert haben! Außerdem habe ich schnell neue Freunde kennengelernt, zu denen echte Freundschaften entstehen sollten.

 

Kurzüberblick: Natürlich war der Weg zum Abitur aber auch kein leichter: Es musste viel gelernt werden und Stresssituationen mussten gemeistert werden: Fachprojekt, Praktikum, Facharbeit, Kolloquium - puh, wie soll das denn alles zu schaffen sein? Dazu die vielen Klausuren und dann noch das Zentralabitur! Denken die Lehrer eigentlich, dass wir keine Freizeit brauchen? Der „normale“ Unterricht ist doch schon Arbeit genug. Und selbst brauchen sie eine halbe Ewigkeit, bis sie mal eine Klausur zurückgeben können, kommen gelegentlich zu spät in den Unterricht und erwarten dann aber, dass man mit seinen Aufgaben in der Stunde noch fertig wird und hinterher wohl auch noch den Klausurstoff gut verstanden hat. Die haben echt Humor!

 

Klassenfahrten: Wenn ich an die Klassenfahrten denke, waren diese ein guter Ausgleich zu der vielen Arbeit! Mir fallen da feucht-fröhliche Abende auf den Zimmern der Unterkunft und/oder in der Bar ein. Trotz Verbot hatten wir natürlich (ein paar) Beschleuniger im Gepäck, weil Klassenfahrten aus Schülersicht auch immer etwas mit Party zu tun haben. Und das Beste: Nie sind wir erwischt worden. Was haben wir uns doch klug und unauffällig verhalten. Bei jeder Kontrolle wären wir dran gewesen, aber wir hatten es einfach drauf! Und andererseits: Wir waren immer alle pünktlich beim Frühstück, haben an allen Programmpunkten vorbildlich teilgenommen, da gab es doch auch nichts zu meckern für die Herren Lehrer und Frauen Lehrerin.

 

Unterricht: Und nach der Klassenfahrt ging es dann wieder in den Unterricht, wo dann häufiger mal „extrem fortschrittliche Methoden“ ausprobiert wurden. Die Lehrer waren total begeistert von ihren mitgebrachten Ideen und etwas enttäuscht, wenn wir Schüler das irgendwie nicht so richtig wertschätzten. Dies war vor allem dann der Fall, wenn viele Lehrer zu ähnlichen Zeiten wieder etwas Neues im Gepäck hatten. „Booah, nicht schon wieder Gruppenarbeit“, wurde dann gestöhnt. „Können wir nicht einfach mal ´normalen´ Unterricht machen?“ Aber es gab keine Gnade – die Methoden wurden durchgezogen.

 

Zu jedem Quartal gab es die Möglichkeit, intensiv über seine Noten mit den betreffenden Fachlehrern zu sprechen. Wenn die obligatorische Frage, ob man nun vorne oder hinten in der Liste beginnt, beantwortet wurde und „der Moment“ gekommen war, ging man also raus und hatte ein Vier-Augen-Gespräch mit seinem Lehrer vor sich. Das begann in der Regel so: „Alex, wie schätzen Sie Ihre Leistungen denn selbst ein?“. „Puuuh, nicht die Frage schon wieder“, dachte man da regelmäßig. „Ist doch SEIN Job mich zu bewerten und nicht meiner… was soll das außerdem bringen? Schätze ich mich zu schlecht ein, bringe ich ihn vielleicht auf doofe Ideen, schätze ich mich zu gut ein, ist das irgendwie peinlich...“. Häufig gab man also einen Schätzwert zum Besten: „Zwischen 1 und 2?“ oder „irgendwie 2 bis 3?“ oder etwas ganz Diplomatisches: „Jooa, also im Vergleich zum letzten Mal habe ich mich schon verbessert, würde ich sagen“ und war meistens auch auf der sicheren Seite damit. Aber diese Frage habe ich als Schüler echt nie verstanden!

 

Januar 2017: Mein Name ist Alexander Lambers, 29 Jahre alt. Das Studium und das Referendariat sind erfolgreich abgeschlossen und ich bin inzwischen seit einem knappen Jahr Lehrer an der Hildegardisschule in Münster. „Ist es nicht komisch, ehemalige Lehrer nun als Kollegen zu haben?“, ist eine häufige Frage aus dem Bekannten- und Freundeskreis. „Sehen die dich nicht noch als Schüler? Oder du sie als „Lehrer“ und nicht als „Kollegen“?“ Die Gefahr bestand natürlich, aber ich hielt sie eher für gering. So wie ich „meine Lehrer“ damals kennengelernt habe und so wie ich mich einschätzte, sollten wir diesen Perspektivwechsel wohl beiderseitig irgendwie hinbekommen. Zwei Praktika während des Studiums, die ich an dieser Schule absolviert hatte, gaben außerdem die Möglichkeit den Perspektivwechsel schon mal ein wenig einzuüben und ich kann mittlerweile sagen, dass es funktioniert hat und ich mich von allen voll und ganz als Kollege akzeptiert und angenommen fühle.

 

Jetzt also Lehrer an der alten Schule….

 

Kurzüberblick: Natürlich muss man einiges neu lernen und sich einen Überblick über die Strukturen der einzelnen Bildungsgänge verschaffen, vieles im Blick haben…. und Stresssituationen aushalten, manchmal fragt man sich: „Fachprojekt, Praktikumsbesuche, Korrektur der Facharbeit, den ganzen Tag Kolloquien - wie soll das denn alles zu schaffen sein?“ Dazu die vielen Klausurstapel, die noch zu Hause warten und natürlich die Prüfungsvorschläge! Und dann kommen die Schüler eine Woche nach der Klausur häufig schon an: „Kriegen wir die Klausur wieder?“. Denken die eigentlich, dass wir gar keine Freizeit brauchen? Und selbst halten die Schüler dann mal wieder die Fristen für Abgaben nicht ein, kommen zu spät in den Unterricht, weil „der Bus nicht fuhr“ oder „der Wecker nicht geklingelt hat“ oder „man noch mal eben beim Bäcker war“ und erwarten dann aber, dass sie optimal auf die Klausur vorbereitet werden und den Stoff gut verstanden haben? Die haben echt Humor!

 

Klassenfahrten: Wenn ich an Klassenfahrten denke, fallen mir aufgedrehte Schüler ein, die schon im Bus fast einen Zuckerschock bekommen. Als Lehrer erwischt man sich dann bei dem Gedanken: „Solange in den prall gefüllten Taschen nur Haribo und Schokolade rumfliegen und die speziellen Getränke zu Hause geblieben sind, ist ja alles gut!“ – „Ha! Der war gut…“, denkt man im nächsten Moment und ist spätestens am ersten Abend, wenn man laut lachende Grüppchen über den ganzen Flur hört, vom Gegenteil überzeugt. Und dann geht das Gedankenspiel los: „Gehe ich hin oder verhalte ich mich ruhig?“ Solange morgen alle beim Frühstück sitzen und am Programm teilnehmen, soll es schon in Ordnung gehen. Sie sind jung, sie haben sich auf die Fahrt gefreut. Solange es keiner übertreibt, kann man sie auch in dem Glauben lassen, dass sie sich geschickt anstellen und wir sie gar nicht bemerken“. Und die (junge) Erfahrung zeigt ja auch: Die allergrößte Mehrzahl der Schüler übertreibt es nicht und rechtfertigt das Vertrauen der Lehrer. Ich zumindest habe bisher nur positive Erfahrungen machen dürfen.

 

Unterricht: Nach jeder Klassenfahrt geht es dann zurück zum Kerngeschäft, zum Unterricht! Im Referendariat wurden wir darauf getrimmt, keinen Unterricht nach „Schema F“ zu machen. Frontalunterricht begünstigt die Lernprozesse der Schüler nicht! Sie sollen selber denken und sich nicht vom Lehrer berieseln lassen. Dies gelingt am besten im Sinne von „Think-Pair-Share“. Das heißt, die Schüler machen sich in einem ersten Arbeitsschritt selbst Gedanken zu einem Phänomen, tauschen sich dann in einer Partner- oder Gruppenarbeit über ihre Ergebnisse aus, und stellen diese dann der gesamten Klasse vor. Mit klassischer Gruppenarbeit hat das nun wirklich überhaupt nichts zu tun – so wurde es jedenfalls gelehrt. In der Uni und im Referendariat spricht man hier von kooperativen Lernprozessen, die den Schülern (lernpsychologisch) deutlich mehr nützenals eben der besagte Frontalunterricht. Wir Lehrer sind also immer dazu angehalten, neue Methoden auszuprobieren, die häufig eben verlangen, dass die Schüler untereinander kooperieren. Ohne dieses theoretische Hintergrundwissen ist der Unterschied zur „Gruppenarbeit“ offensichtlich nicht so groß und es ist ja auch richtig: die Schüler arbeiten ja augenscheinlich auch in Gruppen – jedoch nicht zum Selbstzweck, sondern aus genannten Gründen. Der Wunsch nach „normalem Unterricht“ ist immer mal wieder zu hören und wenn ich ihn höre, erinnere ich mich sehr gut an die Jahre 2005 bis 2008, in denen ich ab und zu genau dasselbe verlangt habe. Jetzt weiß ich allerdings, dass die Lehrer damals und die Kollegen heute einfach auf dem aktuellsten wissenschaftlichen Stand der Didaktik waren bzw. sind – und das sage ich den Schülern, die nach „normalem Unterricht“ verlangen, dann auch schon mal. Ob es sie beruhigt, weiß ich nicht. Aber wir sind ja auch durchaus bemüht, eine gesunde Balance zu schaffen: Die Schüler nur noch in Gruppen arbeiten zu lassen, ist sicherlich auch nicht sinnvoll.

 

Zu jedem Quartal haben die Schüler die Möglichkeit, mit uns über ihre Noten zu sprechen. Es klingt paradox und man will doch eigentlich nicht dieselben „Fehler“ machen wie seine eigenen Lehrer, aber auch ich beginne eine Notenbesprechung häufig mit der Frage nach der Selbsteinschätzung. Wenn ich dann stöhnende, ratlose, genervte Schüler vor mir sitzen habe, hake ich schon mal ein und sage dann: „Ich weiß, ich hab das auch gehasst, aber es hilft mir einfach ein wenig, weil ich erstens meine Wahrnehmung dadurch überprüfen kann und zweitens faire Noten geben möchte.“ und hoffe dann, dass die Schüler dies verstehen und mir die Frage nachsehen.

 

Insgesamt kann ich festhalten, dass das Zusammenspiel „Schüler-Lehrer“ an der Hildegardisschule doch sehr gut funktioniert! Aus dem Text ließe sich ableiten, dass es zum einen daran liegen könnte, dass unsere Gedanken und Wahrnehmungen zum Teil gar nicht so unterschiedlich sind. Zum anderen weiß oder ahnt zumindest der eine (Schüler) von den Anliegen und Motiven des anderen (Lehrers), auch wenn es nicht die eigenen sind - und umgekehrt. Das löst nicht alle Probleme des Unterrichts, erleichtert aber immerhin das gegenseitige Verständnis.