Während der Zugfahrt zu einem Vortrag an der Hildegardisschule am 8. November 2019 – mit dem Thema „Wie Kinder gesunde, tolerante und kooperative Persönlichkeiten werden“ - holten mich Erinnerungen ein. Vor ziemlich genau 50 Jahren befand ich mich in Münster in der Schlussphase meines Medizinstudiums. In dieser bewegten Zeit erlebte ich in Begegnungen mit mir zunächst fremden Menschen immer wieder Überraschungen. Überrascht war ich z. B. auch, wenn gleichaltrige Kommilitonen griesgrämlich brummelten, wir hätten doch alle keine Ahnung und sollten bloß die Finger von „Systemveränderungen“ lassen. Zehn Jahre später, als Leiter der neuen Abteilung für Psychosomatische Medizin an einem Allgemeinkrankenhaus, stieß ich anfangs in einigen weiteren Fachabteilungen des Hauses durchaus auch auf Skepsis. Der Grund hierfür waren therapeutische „Entdeckungsreisen“ zu den von Donald Winnicott beschriebenen Intermediärräumen oder auch Möglichkeitsräumen. Diese Räume sind nicht sichtbar oder gar vermessbar, nur erlebbar. Angesiedelt zwischen unserer Innen- und Außenwahrnehmung, das heißt intermediär, sind sie von enormer Bedeutung. Denn unsere Sinneswahrnehmungen von der Außenwelt treffen dort mit unserem Innenleben – einschließlich Fantasie – zusammen. So können wir in diesen fiktiven Räumen unglaublich kreativ die Welt in uns und um uns herum gestalten und unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen ebenfalls: erst als inneres unbegrenztes Probehandeln, dann in abwägenden Schritten auch real. Mit der Modernen Erlebnispädagogik (Jörg W. Ziegenspeck) gibt es breite Überschneidungsbereiche.
Durch studentische Praktikantinnen und Praktikanten - vorwiegend aus der Medizin und der Pädagogik - erfuhr ich begeisterte Unterstützung für die „neuartigen“ schöpferischen Aktivitäten, so z.B. Nachtwanderungen - auch im Moor - mit Naturbeobachtungen, Floßfahrten, Gestaltung von künstlerischen Objekten aus Naturmaterialien wie Ästen, Steinen und Binsen, Lieder am Lagerfeuer und vieles mehr. Ohne die studentische Hilfsbereitschaft hätten dieses Projekt mit dem Einbau von schöpferischen Möglichkeitsräumen in den Stationsalltag nicht so schnell integraler Bestandteil unseres therapeutischen Programms werden können. Leiter des Projektes war Dipl. Päd. Uli Eberth. Dieser hatte seinerzeit auch schon einen Besuch von Schülerinnen und Schülern der Hildegardisschule organisiert. (Solche Besuche realisierte Uli Eberth in Eigenregie. Ich selbst erfuhr erst später davon)
Zu meinen Gedanken auf der Fahrt nach Münster gehörte auch die Frage, was das wohl für eine Begegnung mit meinen Zuhörerinnen und Zuhörern werden mag. Diese dürften ja nicht viel jünger sein, als die studentischen Praktikanten in meiner Abteilung oder ich selbst während meiner Münster-Zeit.
Schon bei den Spontanbegegnungen vor dem Vortrag, zeigte sich dann ein liebenswürdig-engagiertes Interesse, das auch während der ziemlich langen Vortragszeit ungebrochen anhielt. Später fiel mir dazu ein, wie sehr diese Begegnungweisen denen mit den studentischen Praktikanten ähnelten, die mit ihrem kreativen Engagement seinerzeit unser Projekt „in Fahrt gebracht hatten“.
Das war dann auch nicht weiter verwunderlich. Denn an der Hildegardisschule - so das Schulprogramm - „beschäftigen (die Schülerinnen und Schüler) sich mit übergreifenden Themen, die sich an Stärken und Interessen orientieren“, d. h. salutogene Ressourcen für das individuelle Kohärenzgefühl darstellen. Und indem „in diesen Kursen (...) Schülerinnen und Schüler aus allen Bildungsbereichen zusammen(kommen)“, haben sie die „Gelegenheit, neben dem Erleben der Kursinhalte auch die Mitschülerinnen und Mitschüler der anderen Schwerpunkte kennenzulernen.“ Darüber kann die sogennannte Mentalisierungsfähigkeit, d.h. die Fähigkeit sich in andere hineinzudenken gefördert werden. Und zugleich kann das soziale Kohärenzgefühl durch „(Mitwirken) im Theater, Chor oder Rock`n Blues-Ensemble“ oder „Tanzen und Teamsport“ gestärkt werden. Vor diesem Hintergrund war ich dann mehr erfreut als erstaunt als ich Ende September 2020 von Herrn Bömelburg folgende Nachricht erhielt:
„(...) In diesem Jahr haben wir mit dem Projekt "Floßbau" gestartet, das wir in vier Klassen der Fachoberschule für Gesundheit und Soziales sowie Ernährung und Hauwirtschaft durchgeführt haben. Für uns als Lehrer*innen brachte dieses Projekt einige bemerkenswerte Erfahrungen mit sich:
1. Die Schüler*innen haben alle unsere etwas linkischen Bemühungen der Unterstützung zurückgewiesen. Sie wollten "selbstwirksam" sein und haben ohne Frustration, Rückzug o.ä. in Kauf genommen am Ende im Wasser zu landen.
2. Wir haben noch nie so motivierte, aufeinander bezogene, konzentrierte und euphorische Schüler*innen erlebt wie in diesen Veranstaltungen.“
Ein solch intensiver und für die soziale Gesundheit hochbedeutsamer „Moment of meeting“ Daniel Stern) bedarf aber auch häufigerer Vorbegegnungen in schöpferischen Möglichkeitsräumen, so wie sie eben an der Hildegardischule üblich sind. Möge ein solches kreatives Lernumfeld Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften lange erhalten bleiben und auch „Schule an anderen Schulen machen“.
Dr. Eckhard Schiffer, ehemaliger Leiter der Abteilung für psychosomatische Medizin im Krankenhaus Quakenbrück und Buchautor ("Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde" und viele andere Veröffentlichungen zum Thema Salutogenese).